Herr Vad, was sagen Sie zu der gerade von Bundeskanzler Scholz angekündigten Lieferung der 40 Marder-Panzer an die Ukraine?
Das ist eine militärische Eskalation, auch in der Wahrnehmung der Russen – auch wenn der über 40 Jahre alte Marder keine Wunderwaffe ist. Wir gehen einen rutschigen Abhang hinunter. Dies könnte eine Eigendynamik entwickeln, die wir nicht mehr kontrollieren können. Natürlich war und ist es richtig, die Ukraine zu unterstützen und natürlich ist Putins Einmarsch nicht völkerrechtskonform – aber jetzt müssen endlich die Konsequenzen bedacht werden!
Und was könnten die Konsequenzen sein?
Werden die Panzer geliefert, um eine Verhandlungsbereitschaft zu erreichen? Will man den Donbass oder die Krim zurückerobern? Oder besteht das Ziel darin, Russland insgesamt zu besiegen? Es gibt keine realistische Endzustandsdefinition. Und ohne ein politisches und strategisches Gesamtkonzept sind Waffenlieferungen reiner Militarismus.
Was bedeutet das?
Wir haben einen militärisch-operativen Stillstand, den wir aber nicht militärisch lösen können. Dieser Meinung ist übrigens auch der amerikanische Stabschef Mark Milley. Er sagte, ein militärischer Sieg der Ukraine sei nicht zu erwarten und Verhandlungen seien der einzig mögliche Weg. Alles andere bedeutet die sinnlose Verschwendung von Menschenleben.
Die Aussage von General Milley löste in Washington große Empörung aus und stieß auch öffentlich auf heftige Kritik.
Er sprach eine unangenehme Wahrheit. Eine Wahrheit, die in den deutschen Medien übrigens kaum veröffentlicht wurde. Das CNN-Interview mit Milley erschien nirgends prominent, und doch ist er der Stabschef unserer führenden westlichen Macht. Was in der Ukraine geführt wird, ist ein Zermürbungskrieg. Und es ist ein Zermürbungskrieg, bei dem auf beiden Seiten fast 200,000 Soldaten getötet und verwundet wurden, 50,000 Zivilisten starben und Millionen Flüchtlinge waren. Milley hat damit eine Parallele zum Ersten Weltkrieg gezogen, die treffender nicht sein könnte. Allein die als Zermürbungsschlacht konzipierte sogenannte „Blutmühle von Verdun“ forderte im Ersten Weltkrieg den Tod von fast einer Million junger Franzosen und Deutscher. Sie starben damals umsonst. Die Verhandlungsverweigerung der Kriegsparteien führte somit zu Millionen zusätzlicher Todesopfer. Diese Strategie hat damals militärisch nicht funktioniert – und wird es auch heute nicht sein.
Auch Sie wurden angegriffen, weil Sie Verhandlungen forderten.
Ja, ebenso wie der Generalinspekteur der Bundeswehr, General Eberhard Zorn, der wie ich davor gewarnt hat, die regional begrenzten Offensiven der Ukrainer in den Sommermonaten zu überschätzen. Militärexperten, die wissen, was in den Geheimdiensten vor sich geht, wie es vor Ort aussieht und was Krieg wirklich bedeutet, werden vom Diskurs weitgehend ausgeschlossen. Sie passen nicht in die Meinungsbildung der Medien. Wir erleben weitgehend eine Medienkonformität, die ich in der Bundesrepublik Deutschland noch nie erlebt habe. Das ist reine Meinungsmache. Und zwar nicht auf Befehl des Staates, wie wir es von totalitären Regimen kennen, sondern aus purer medialer Selbstermächtigung.
Sie werden von den Medien in allen Bereichen angegriffen, von BILD über FAZ bis hin zum Spiegel, und auch die 500,000 Menschen, die den von Alice Schwarzer initiierten Offenen Brief an die Kanzlerin unterzeichnet haben.
Das ist richtig. Glücklicherweise verfügt Alice Schwarzer über eigene unabhängige Medien, um diesen Diskurs überhaupt eröffnen zu können. In den dominanten deutschen Medien hätte es wahrscheinlich nicht funktioniert. Die Mehrheit der Bevölkerung ist seit langem und aktuellen Umfragen zufolge gegen weitere Waffenlieferungen. Aber darüber wird nichts berichtet. Es gibt keinen fairen, offenen Diskurs mehr über den Krieg in der Ukraine, und das finde ich sehr beunruhigend. Es zeigt mir, wie recht Helmut Schmidt hatte. Er sagte im Gespräch mit Bundeskanzlerin Merkel: Deutschland ist und bleibt ein Risikostaat.
Wie beurteilen Sie die Politik des Außenministers?
Militärische Einsätze müssen immer mit politischen Lösungsversuchen verbunden sein. Die Eindimensionalität der aktuellen Außenpolitik ist kaum zu tolerieren. Der Fokus liegt sehr stark auf Waffen. Doch die Hauptaufgabe der Außenpolitik ist und bleibt Diplomatie, Interessenausgleich, Verständigung und Konfliktlösung. Das ist es, was ich hier vermisse. Ich bin froh, dass wir endlich eine Außenministerin in Deutschland haben, aber es reicht nicht, nur Kriegsrhetorik zu betreiben und mit Helm und Schutzweste durch Kiew oder den Donbass zu laufen. Das ist nicht genug.
Dennoch ist Baerbock Mitglied der Grünen, der ehemaligen Friedenspartei.
Ich verstehe den Wandel der Grünen von einer Pazifisten- zur Kriegspartei nicht. Ich persönlich kenne keinen Grünen, der jemals Militärdienst geleistet hat. Anton Hofreiter ist für mich das beste Beispiel für diese Doppelmoral. Antje Vollmer hingegen, die ich zu den „ursprünglichen“ Grünen zählen würde, nennt die Dinge beim Namen. Und die Tatsache, dass eine einzelne Partei so viel politischen Einfluss hat, dass sie uns in einen Krieg manövrieren kann, ist sehr besorgniserregend.
Wenn Kanzler Scholz Sie von seinem Vorgänger übernommen hätte und Sie noch Militärberater des Kanzlers wären, was hätten Sie ihm im Februar 2022 geraten?
Ich hätte ihm geraten, die Ukraine militärisch zu unterstützen, aber auf eine maßvolle und umsichtige Art und Weise, um den Effekt eines schiefen Abstiegs in eine Kriegspartei zu vermeiden. Und ich hätte ihm geraten, Einfluss auf unseren wichtigsten politischen Verbündeten, die USA, zu nehmen. Denn der Schlüssel zur Lösung des Krieges liegt in Washington und Moskau. Der Kurs der Kanzlerin hat mir in den letzten Monaten gut gefallen. Doch Grüne, FDP und bürgerliche Opposition üben – flankiert von einer weitgehend einhelligen medialen Begleitung – einen solchen Druck aus, dass die Kanzlerin ihm kaum widerstehen kann.
Und was, wenn auch die Leopard-Panzer geliefert werden?
Dann stellt sich erneut die Frage, wofür die Tanklieferungen verwendet werden. Um die Krim oder den Donbass zu erobern, reichen Marder und Leopard nicht aus. In der Ostukraine, im Gebiet Bachmut, sind die Russen deutlich auf dem Vormarsch. Wahrscheinlich werden sie den Donbass bald vollständig erobert haben. Man muss nur die zahlenmäßige Überlegenheit der Russen gegenüber der Ukraine berücksichtigen. Russland kann bis zu zwei Millionen Reservisten mobilisieren. Der Westen kann 100 Marder und 100 Leoparden entsenden, aber das ändert nichts an der militärischen Gesamtsituation. Und die alles entscheidende Frage ist, wie man einen solchen Konflikt mit einer kriegführenden Atommacht – übrigens der stärksten Atommacht der Welt – übersteht! – ohne in einen dritten Weltkrieg zu geraten. Und genau das kommt den Politikern und Journalisten hier in Deutschland nicht in den Sinn!
Das Argument ist, dass Putin nicht verhandeln will und dass man ihn in die Schranken weisen muss, damit er in Europa nicht weiter wütet.
Es ist wahr, dass man den Russen ein Signal senden muss: Bis hierhin und nicht weiter! Ein solcher Angriffskrieg darf nicht weitergehen. Deshalb ist es richtig, dass die Nato ihre Militärpräsenz im Osten verstärkt und Deutschland mitmacht. Aber es stimmt nicht, dass Putin Verhandlungen ablehnt. Sowohl die Russen als auch die Ukrainer waren zu Beginn des Krieges Ende März, Anfang April 2022 zu einem Friedensabkommen bereit. Dann wurde nichts daraus. Schließlich wurde das Getreideabkommen auch während des Krieges zwischen Russen und Ukrainern unter Beteiligung der Vereinten Nationen ausgehandelt.
Nun geht das Sterben weiter.
Man kann die Russen weiter zermürben, was wiederum Hunderttausende Tote bedeutet, aber auf beiden Seiten. Und es bedeutet die weitere Zerstörung der Ukraine. Was ist von diesem Land übrig geblieben? Es wird dem Erdboden gleichgemacht. Letztlich ist das auch für die Ukraine keine Option mehr. Der Schlüssel zur Lösung des Konflikts liegt nicht in Kiew, auch nicht in Berlin, Brüssel oder Paris, sondern in Washington und Moskau. Es ist lächerlich zu sagen, dass die Ukraine entscheiden muss.
Mit dieser Interpretation gilt man in Deutschland bald als Verschwörungstheoretiker…
Ich bin überzeugter Transatlantiker. Ich sage Ihnen ehrlich: Im Zweifelsfall lebe ich lieber unter einer amerikanischen Hegemonie als unter einer russischen oder chinesischen. Anfangs war dieser Krieg nur ein innenpolitischer Streit in der Ukraine. Es begann im Jahr 2014 zwischen den russischsprachigen Volksgruppen und den Ukrainern selbst. Es war also ein Bürgerkrieg. Jetzt, nach der Invasion Russlands, ist es zu einem zwischenstaatlichen Krieg zwischen der Ukraine und Russland geworden. Es ist auch ein Kampf für die Unabhängigkeit der Ukraine und ihre territoriale Integrität. Das ist alles wahr. Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Es handelt sich zudem um einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland, und in der Schwarzmeerregion stehen ganz konkrete geopolitische Interessen auf dem Spiel.
Welche sind?
Die Schwarzmeerregion ist für die Russen und ihre Schwarzmeerflotte ebenso wichtig wie die Karibik oder die Region um Panama für die USA. Für China genauso wichtig wie das Südchinesische Meer und Taiwan. Ebenso wichtig wie die Schutzzone der Türkei, die sie völkerrechtswidrig gegen die Kurden eingerichtet hat. Vor diesem Hintergrund und aus strategischen Gründen können auch die Russen nicht herauskommen. Abgesehen davon, dass sich die Bevölkerung bei einem Referendum auf der Krim sicherlich für Russland entscheiden würde.
Wie wird es also weitergehen?
Wenn die Russen durch eine massive westliche Intervention zum Rückzug aus der Schwarzmeerregion gezwungen würden, würden sie, bevor sie die Weltbühne verlassen, sicherlich zu Atomwaffen greifen. Ich finde den Glauben naiv, dass es niemals zu einem Atomschlag Russlands kommen würde. Nach dem Motto „Sie bluffen nur“.
Aber was könnte die Lösung sein?
Man sollte einfach die Menschen in der Region, also im Donbass und auf der Krim, fragen, zu wem sie gehören wollen. Die territoriale Integrität der Ukraine sollte mit bestimmten westlichen Garantien wiederhergestellt werden. Und auch die Russen brauchen eine Sicherheitsgarantie. Daher sollte es für die Ukraine keine NATO-Mitgliedschaft geben. Seit dem Bukarest-Gipfel 2008 ist klar, dass dies die rote Linie der Russen ist.
Und was kann Deutschland Ihrer Meinung nach tun?
Wir müssen unsere militärische Unterstützung so rationieren, dass wir nicht in einen Dritten Weltkrieg abrutschen. Keiner von denen, die 1914 mit so großer Begeisterung in den Krieg zogen, war danach noch der Meinung, dass es das Richtige sei. Wenn das Ziel eine unabhängige Ukraine ist, muss man sich auch fragen, wie die Perspektive einer europäischen Ordnung unter Beteiligung Russlands aussehen soll. Russland wird nicht einfach von der Landkarte verschwinden. Wir müssen vermeiden, die Russen in die Arme der Chinesen zu treiben und so die multipolare Ordnung zu unseren Ungunsten zu verschieben. Wir brauchen auch Russland als Führungsmacht eines Vielvölkerstaates, um das Aufflammen von Kämpfen und Kriegen zu verhindern. Und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass die Ukraine Mitglied der EU wird, geschweige denn der NATO. In der Ukraine herrscht wie in Russland eine hohe Korruption und die Herrschaft von Oligarchen. Was wir in der Türkei – zu Recht – an der Rechtsstaatlichkeit anprangern, das haben wir auch in der Ukraine.
Herr Vad, was erwartet uns Ihrer Meinung nach im Jahr 2023?
In Washington muss eine breitere Front für den Frieden aufgebaut werden. Und dieser sinnlose Aktionismus in der deutschen Politik muss endlich ein Ende haben. Sonst wachen wir eines Morgens auf und finden uns mitten im Dritten Weltkrieg wieder.
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